Patient Freiheit: Zwischen individueller Freiheit und konformistischen Denken, Renationalisierung und Neokonservatismus – Welche Chancen hat Europa nach Corona?

Das Coronavirus trifft, so den ersten Erkenntnissen zur Folge, vor allem Menschen mit Vorerkrankungen. Dieser Umstand lässt sich auch auf die Freiheit in Europa übertragen, denn seit Jahren wird an ihrem Fundament gesägt und gehämmert. Die Gründe sind vielseitig, doch die aktuelle Krise hat gezeigt, dass nichts für die Ewigkeit bestimmt ist – auch wenn es die meisten (noch) glauben.

Zugegeben: Der Vergleich mit Kranken mag für einige zwar unpassend vorkommen, doch es steht so ernst wie um das Gesundheitssystem, wenn es um die Freiheit geht. Mit Freiheit ist dabei vieles gemeint, grundsätzlich geht es um die individuelle Freiheit des Individuums, die jahrhundertelang von unseren Vorfahren erkämpft wurde. Es gab einmal mehr, einmal weniger von dieser individuellen Freiheit, je nach Epoche.

Doch es ist klar: Der Umfang an unterschiedlichen (Grund-)Rechten, die heute unter Freiheit zusammengefasst werden können, stand in Europa noch nie solch einer großen Anzahl an Personen zur Verfügung. Vom römischen Sklavensystem über die Feudalherrschaft im Mittelalter bis zum Absolutismus der Neuzeit war der Mensch ständig irgendjemanden unterworfen, musste sich seinen Herren oder Herrschern unterwerfen und konnte nur beschränkt über sein eigenes Leben entscheiden. Die wichtigsten Etappen weg von dieser Unterwerfung kamen erst spät, die Französische Revolution 1789 und die Aufklärung wie vor allem 1848 stellten wesentliche Entwicklungsschritte hin zu einem immer freieren Individuum dar. Immer wieder kam es dabei zu Rückschlägen, doch immer wieder setzte sich ein fortschrittliches Denken durch, das die alten Abhängigkeiten durchbrechen wollte.

Das 20. Jahrhundert war dann der absolute Durchbruch, der Einfluss der Kirche wurde in Europa schrittweise zurückgedrängt, die Modernisierungstendenzen in den 1960er und 1970er Jahren machten auch die Gesellschaft weltoffen und verdrängten schrittweise totalitäre Weltansichten – und auch solche die unter dem Deckmantel „Tradition“ vieles aufrechterhielten, dass im Grunde vielen Menschen nicht unbedingt ein freies Leben ermöglichte.

Freiheit kann also vor allem gesellschaftspolitisch verstanden werden, der Staat als das Konstrukt des sozialen Zusammenlebens kümmert sich lediglich darum, dass jeder individuell die gleichen Ausgangsbedingungen und Chancen hat und das durch eine Verfassung abgesicherte Grundrechte (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit usw.) allen Bürgern in gleichem Ausmaß zur Verfügung stehen.

 Und genau diese Freiheit ist in Gefahr, auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen konkreten Ausprägungen. Die aktuelle Krise zeigt auf erschreckende Art und Weise wie schnell das Individuelle wieder zurückgedrängt werden kann. Zum Schutz von Menschenleben wurden weitreichende Einschränkungen in die Grundrechte der Menschen durchgeführt, dies ist, zumindest in Österreich, unter demokratiepolitisch korrekten Vorgängen zustande gekommen, die Gesetze zur Eindämmung von Covid-19 haben ein Ablaufdatum.

 Doch das wahre Problem sind für die individuelle Freiheit hier viel mehr Tendenzen in der Bevölkerung, die freilich schon vor dieser Krise vorhanden waren. Diverse Foren sowie Facebook sind voll mit bösen Kommentaren, die eine angebliche Disziplinlosigkeit der Menschen anprangern, die zur Selbstjustiz greifen und die Kennzeichen bezirksfremder Autos notieren und dies den Behörden melden. Menschen, die bei Gelächter aus dem Nachbargarten sofort die Polizei rufen wollten, da es sich ja um eine verbotene Feier handelte. Diese Auswüchse sind nicht in den Covid-19 Gesetzen geregelt, sie entspringen den Menschen, die nun Läufer und Radfahrer verbal attackieren – ohne Grund, da weiterhin erlaubt.

Die radikalen Einschränkungen, so scheint es, rufen autoritäre Grundeinstellungen hervor, die tief im konservativen Österreich verankert sind. Auch wenn Österreich zu einem der reichsten Länder der Welt mit einer renommierten Wirtschaft zählt, ist die Modernisierung der Gesellschaft nur scheinbar soweit fortgeschritten. Dabei ist Österreich keine Ausnahme, in Südosteuropa oder Ostmitteleuropa sieht es dabei nicht unbedingt besser aus – von einer pluralistischen Gesellschaft kann dort keine Rede sein.

Es besteht daher die Gefahr, dass durch diese Krise und bereits bestärkt durch die Flüchtlingskrise 2015 noch stärker autoritäre und reaktionäre Strömungen an Fahrt zunehmen, die die Entscheidungsfreiheit des Individuums wieder reduzieren. Persönliche Bedenken oder Befindlichkeiten zählen in dieser Krise nichts (mehr), es geht nur mehr um ein kollektives Ziel, dem alles andere untergeordnet wird. Klar, es ist ein schönes und erstrebenswertes Ziel mögliche viele Menschen zu retten und dafür ein „Team Österreich“ zu beschwören. Doch diese Tendenz könnte zu einer stärkeren Renationalisierung und zu einer konservativeren Gesellschaft führen, in der keine Rücksicht auf Menschen genommen wird, die aus welch Gründen auch immer einen anderen Lebensstil führen und sich nicht einer Norm unterwerfen wollen.

In Europa könnten daher einige Errungenschaften auf der Kippe stehen. In Österreich ist zwar aufgrund der bereits erwähnten Begrenztheit der Gültigkeit der Gesetze vorläufig nicht damit zu rechnen, dass die Einschränkungen in die Grundrechte bestand haben, doch wie etwa Ungarn zeigt, ist dort bereits die Demokratie gestorben – und damit auch die Möglichkeit individuelle Freiheitsrechte dementsprechend abzusichern.

Nicht immer muss es so deutlich erfolgen wie in Ungarn, denn die schleichende Renationalisierung ist ein weiteres negatives Produkt dieser Krise – oder besser gesagt eine Verstärkung, da bereits die Flüchtlingskrise 2015 eine massive Einschränkung in dieser Hinsicht bedeutet hat.  Im Sog einer vollkommenen übertriebenen und vor allem totalen Globalisierungsablehnung wird jetzt alles infrage gestellt.

Die Coronakrise wird in Europa vor allem individuell je Land gemeistert, ein gemeinsames Europa ist praktisch nicht präsent. Blockierte Lieferungen von medizinischem Material und politische Alleingänge sind da nur die Spitze eines tiefen Eisbergs, der immer mehr aufzeigt, dass die EU für viele Regierungen gar keine Bedeutung mehr hat. Europa und die EU werden von ganz links als Inbegriff der Globalisierung und der verhassten Konzerne und von ganz rechts als zentraler Feind des heilbringenden Nationalismus betrachtet. Die gemäßigte Mitte ist seit Jahren nicht imstande mehr als Lippenbekenntnisse zu Europa herauszubringen, „Wir stehen für ein starkes Europa“ ist da schon sehr konkret. Doch im politischen Alltag existiert die EU nur auf symbolischer Ebene, man trifft sich zu Gipfeln und versucht irgendwie auf eine gemeinsame Linie zu kommen, der wirklich große Wurf gelingt dabei nie. Die Probleme werden dabei selbstverständlich auch ohne Corona immer größer: Der Klimawandel macht vor keinem Land halt, die Migrationswellen genauso wenig. Doch Europa bleibt untätig. Bereits 2015 haben die Länder eigenständige Maßnahmen gegen die Migrationsbewegungen gesetzt, bis Corona ausbrach gab es etwa an der Grenze zu Österreich und zu Deutschland von beiden Ländern Grenzkontrollen, Flüchtlinge gab es da nur mehr vereinzelt. Immer wieder hieß es dazu von den Politikern: „Solange die Außengrenzen nicht gesichert sind“ – Wer kann denn die Außengrenzen besser schützen? Es ist eben einfach für nationale Politiker sich als Außenstehender in diesen Fragen zu präsentieren, anstatt gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Denn: es braucht die entsprechenden Kompetenzen an eine EU-Behörde, damit diese effektiv arbeiten könnte, doch das kommt im Diskurs der Politiker nicht an, sondern nur: Die EU tut nichts, wir aber schon.

Mit Corona haben die Alleingänge nochmals eine neue Dimension erreicht. Schutzausrüstung wird von Deutschland und Tschechien blockiert und man will schon von Anfang an gar nicht gemeinsam das Problem lösen. Stattdessen beschließt jeder Staat seinen eigenen Weg – die Folge: Gestrandete Autofahrer an blockierten Grenzen, Probleme mit gewissen Fachkräften wie Pflegerinnen aus Ostmitteleuropa und ein wachsender Nationalismus. Bundeskanzler Sebastian Kurz spricht stolz von einem „Team Österreich“ und gleichzeitig kritisiert er „die EU“ für ihr Nicht-handeln in dieser Krise – ohne näher darauf einzugehen was denn „die EU“ für ihn sei und was damit gemeint war und ohne zu erwähnen, dass es eine klare Kompetenzteilung gibt und die EU-Kommission (wenn die gemeint war) in Gesundheitsfragen derzeit nur zuschauen kann.

Rhetorik ist gefährlich, denn dieses Bild der Politiker, die gegen „die EU“ schießen gibt es seit Jahren, auch aus den Zentrumsparteien. Die EU funktioniert deshalb so schlecht, weil nationale Politiker seit Jahren diese auf Sparflamme betreiben. Die Coronakrise ist nach der „Flüchtlingskrise“ die nächste Herausforderung die national gelöst wird. Nur das diesmal rot-weiß-rote Bändchen durch die Gegend flattern, die Polizei „I am from Austria“ abspielt und das Team Österreich mit halber Kriegsrhetorik bejubelt wird. Die EU, „die da“ sind die Bösen „irgendwo in Brüssel“, die nix tun – während man selbst eine Meisterarbeit durchführt. In dieser Krise zählt eben ein exklusives „Wir“.

Die anfangs angesprochene individuelle Freiheit ist durch diese Renationalisierung in Gefahr. Die schleichende Renationalisierung wird dazu führen, dass das ohnehin schon angeschlagene Schengener Abkommen endgültig am Ende ist. Frankreich hat bereits angekündigt seine Grenzkontrollen, die auch seit Jahren durchgeführt werden, weitere 6 Monate fortzusetzen. Es darf davon ausgegangen werden, dass auch Monate nach dem Ende von Corona die Grenzkontrollen weiter existieren. Immerhin, so denken sich viele Regierungen, hätten sich die Menschen dann schon daran gewöhnt. So werden Grenzräume wieder neu geschaffen, das „Hier“ wird vom „Drüben“ wieder deutlicher getrennt. Die Möglichkeit innerhalb der EU recht einfach hin- und herzufahren wird damit noch weiter eingeschränkt, es könnten die Verschärfung von Aufenthaltsrechten und vor allem ein Anstieg von (unnnötiger) Bürokratie folgen. Die Folge dieser Entwicklung: Die individuelle Freiheit wird eingeschränkt und die Mauern in den Köpfen werden wieder größer.

Paradoxerweise wird nicht nur das Schengener Abkommen eventuell bald Geschichte sein, sondern mit einer schrittweisen Demontage der EU fällt ein wichtiger Kontrollmechanismus weg, der besser aus- als rückgebaut werden sollte wie die Beispiele Ungarn und Polen zeigen. Die individuellen Freiheiten sind so umso stärker in Gefahr. Im Sog eines neuen frenetisch umjubelten Nationalismus wird es nichts dauern bis schrittweise zum „Schutz des Vaterlandes“ auch weitere Dinge neben der Reisefreiheit fallen – und zwar alles das, was die individuelle Freiheit schützt. Während die Welt immer mehr zusammenwächst, igelt sich Europa immer mehr ab, werden nationale Grenzen hochgezogen und man beschwört einen seltsam mystisch verklärten Neokonservatismus hervor, wo traditionelle Rollenbilder und ein heroisches, partielles Geschichtsbild vorherrschen. Wo Minderheiten als „Problemfall“ dargestellt werden und das Individuum sich gefälligst kollektiven Zielen unterzuordnen hat. In Ungarn wird dies unter dem Schlagwort „Illiberalismus“ bereits praktiziert.

Dabei bräuchte Europa jetzt genau das Gegenteil: Alle Länder sind von der Coronakrise betroffen, es bräuchte den von Historiker Oliver Rathkolb angesprochenen „neuen Marshallplan“ von dem dann auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gesprochen hat. Es braucht jetzt weniger Nationen und mehr Europa. Es braucht jetzt einen Plan für ein gemeinsames Europa. Der bedeutet eine effizientere EU-Kommission, ein aufgewertetes EU-Parlament und weniger Einfluss der Nationalstaaten bei gleichzeitig klarerer Kompetenzteilung.

Die individuellen Freiheitsrechte können, das zeigen die Beispiele aus Ungarn und Polen, nicht immer von Nationalstaaten gewahrt werden, es braucht eine Ebene darüber, die im Falle des Falles Mittel und Möglichkeiten hat einzugreifen. Die EU ist kein Erfolgsprojekt, doch sie ist die logische Fortsetzung der wichtigsten Jahreszahlen 1789 – 1848, sie ist der Versuch supranational Frieden zu sichern und einen zerstrittenen Kontinent langfristig Wohlstand zu geben. Mit einer richtigen Nutzung der Institutionen kann verhindert werden, dass es zu einem weiteren nationalistischen Rückfall kommt, der in Europa noch nie für Wohlstand gesorgt hat.

Für eine Bewahrung liberaler Ideen müssen aber nun auch die Politiker aktiv werden und europäische Ideen nicht weiter blockieren. Die Herausforderungen sind zu groß. Es könnte die letzte Chance für Europa sein in einer immer globalisierten Welt eine Rolle zu spielen. Es steht viel auf dem Spiel, die Zukunft Europas und die Zukunft der individuellen Freiheit.

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