Hart arbeiten und das Leben genießen – ein Monat in Bergamo

Hart arbeiten und das Leben genießen – ein Monat in Bergamo

Strömender Regen, das Abwassersystem versagt, die Straßen sind nahezu schon überschwemmt, Blitze zucken über den Himmel, es donnert: Am Abend des 30. Juni 2014 ist das Wetter nicht gerade einladend, um ein Monat im Ausland einzuläuten. Ein Monat Bergamo. Ein Monat Italien! Und dann solch ein Wetter! Bereits der Weg auf der Autobahn war beschwerlich, ein starker Regenschauer, ein Gewitter jagte das Nächste und es schien, als würde es nie aufhören zu regnen. 15°C zeigte das Thermometer – nach Italien fühlt sich DAS nicht an. Aber an diesem 30. Juni gingen mir andere Fragen durch den Kopf: Wie wird die Unterkunft sein? Wie wird die Arbeit ablaufen? 1 Monat Italien haben mir geholfen ein altbekanntes Land neu kennenzulernen und nach unzähligen positiven Erfahrungen gibt es nur mehr eine Frage: Wann geht’s wieder nach Bergamo!?

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Ausblick von der Città Alta auf die Città Bassa in Bergamo

Straßenleben „all‘ italiana“

Bergamo – der Name dieser Stadt dürfte von den Meisten nicht unter die Top 5 italienischer Städte gereiht werden. Da kommen zuerst Namen wie Venedig, Rom, Mailand oder auch Genua. Dabei versteckt sich hinter der Stadt eine wahrhafte Perle und eine der schönsten Städte Italiens. Hoch auf einem Hügel thront die sogenannte „Città Alta“, das alte Stadtzentrum, dass einen unberührten Stadtkern aus dem Mittelalter aufweist und von einer massiven Stadtmauer umgeben ist, die von den Venezianern errichtet wurde, die lange über die Stadt etwa 50 km nördlich von Milano/Mailand herrschten.

Nachdem ich mich im strömenden Regen bis zu meinem Vermieter vorgearbeitet habe und er  mich in diesen kleinen Luxustempel gebracht hatte, den ich für 1 Monat mein Eigen nennen  durfte – zwei große Zimmer, ein großes Bad – alles modern und mit allem ausgestattet, was man so zum Leben braucht – erwachte ich am nächsten Morgen – meinen ersten, kompletten Tag in Bergamo Città und öffnete die großen, alten Fensterläden. Vergessen war der Regen des Vortages, die 15° C, die Gewitter, die Blitze – ein makellos blauer Himmel strahlte mir entgegen und ein grandioser Blick auf die Città Alta, deren Silhouette im morgendlichen Sonnenlicht golden glänzte und fast schon etwas „magisch“ wirkte.

Nach einem kurzen Frühstück öffnete ich das große, orginal erhaltene Tor aus dem 17. Jahrhundert, das meinen „Palast“ von der breiten, geradelinig verlaufenden Via Torquato Tasso trennt – wohlgemerkt eine der besten Adressen von Bergamo Stadt. Im warmen Julisonnenlicht  ist man mit einem Stoß hineinversetzt in das italienische Straßenleben: Geschäftsleute, die in Anzug zur Arbeit hasten, ältere Damen, die im Cafè nebenan ihren „Espresso“ einnehmen, die Besitzer der vielen, kleinen Läden, die gerade ihre Läden eröffnen, der Geruch von frisch gemahlenen Kaffee, von frischem Brot und von frischem Obst. „Italien erwacht“ – allein diese Szene am frühen Morgen, die sich jeden Tag aufs Neue wiederholt, wirkt als sei sie mit einem besonderen Sinn für das Besondere, für das Genießen des Lebens, inszeniert.

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Die Via Tasso in Bergamo

Vorbei an der Via XX Settembre, der zentralen Einkaufsstraße, die sich an die Via Torquato Tasso anschließt, eröffnet sich für mich Kapitel 1 von „Arbeiten in Italien – die Unterschiede“. Denn kaum angekommen an meiner zukünftigen Arbeitsstelle lernte ich bereits in den ersten 10 Minuten die Unterschiede des Arbeitens zwischen Österreich und Italien kennen: In der Lombardei und insbesondere in Bergamo gilt: „Hart arbeiten und das Leben genießen“ , das hört sich nach zwei nicht vereinbare Grundsätze an? Die „bergamaschi“ wie die Bewohner von Bergamo genannt werden, schaffen es, diesen Spagat jeden Tagen aufs Neue hinzukriegen. Für mich hieß das im Klartext: Drei Projekte, Zeit bis zum Monatsende und die Arbeitszeiten, die sind selbst einzuteilen.

Nach Jahren der Ferialjobs bei einer Kammerorganisation in Österreich, die wie vieles seit dem 2. Weltkrieg unverändert ein Paralleleben zwischen Staat und Gesellschaft führt, war diese Art des Arbeitens etwas ganz neues, eine neue Arbeitshaltung, die man erst „lernen“ musste.

Mangiare in Italia – Essen und gegessen werden  

Aber nach anfänglichen Schwierigkeiten, die neue „Freiheit“ bei gleichzeitigen „Aufgaben“ korrekt einzuteilen, geling auch das von selbst und es war Zeit für Kapitel 2:  „Mittagspause all’italiana“. Vorbei die Zeiten, wo die Mittagspause von 12:30 bis 13:30 gedauert hat, egal ob man diese Zeit auch wirklich ausnutzt.

Hier kommt wieder die Bergamasker Lebenseinstellung: „Hart Arbeiten und das Leben genießen“ ins Spiel. Gleich am ersten Tag nahm meine Mittagspause eine unerwartete Wendung: Ich befürchtete schon, die restlichen Wochen mit Pizzastücken aus dem nahen, großen Auchan-Supermarkt zu verbringen, allein auf meinen Schreibtisch im Büro in der Via Broseta. Aber es kam ganz anders, denn: In Italien steht Essen ganz oben in der Rangfolge der Wichtigkeiten im Leben. Und diesen zentralen Lebensinhalt sollte man nicht alleine zelebrieren. So war ich etwas erstaunt, als mich meine Chefin bereits am ersten Tag fragte, ob ich mit ihr und ihrer Familie gemeinsam in der Wohnung essen wollte. Ich willigte ein und erlebte fünf Stockwerke höher das „Dolce Vita“ in Form eines ausgiebigen und trotzdem gesunden, italienischen Mittagessens, das meistens aus Pasta, einen zweitem Fleischgericht und Obst als Dessert bestand.

 

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Essen am Gardasee

„Beim Essen kommen die Leute zusammen“ – diese Lebensweisheit wird wohl kaum irgendwo so genau genommen wie in Italien. Am Tisch lernte ich nicht nur die Familie meiner Chefin kennen, ihren Mann, ihre zwei Kinder, die immer für viel Schwung in der Wohung sorgten, sondern auch die Eltern eines Freundes.

Anlässlich der Eröffnung eines Autobahnstückes, bei der auch Matteo Renzi, der Premierminister Italiens anwesend war, reiste ich extra deswegen ins etwa 30 km südlich von Bergamo gelegene Bariano – einem kleinen, hübschen Ort in der Provinz von Bergamo. Obwohl Renzi sich nur einem erlauchten, kleinen Kreis von ausgewählten Personen zeigte, erlebte ich nach der Eröffnungsfeier ein original italienisches Mittagessen: In einem kleinen Haus in Bariano bereitete die Mutter dieses Freundes eine Köstlichkeit nach der anderen zu: Spaghetti con pomodori, Spaghetti mit Tomaten aus dem eigenen Garten, gefolgt von Schnitzel mit Mozzarella und Tomaten überbacken, Blätterteig mit Vanillecreme und Obst.

Während dieser gut zwei Stunden, in der ich oft aufgefordert wurde, noch „di più“, noch „mehr“ zu essen, lernte ich alle Familienmitglieder kennen, wir plauderten über mein bisheriges Leben, meine & ihre Zukunftspläne – kurzum: Über Gott und die Welt.

Nach diesem üppigen, aber geschmacklich extrem guten Essen verabschiedeten wir uns jedoch  nicht wie man in Österreich oder Deutschland denken mag mit einem einfachen Händeschütteln,

sondern mit zahlreichen Umarmungen. Es war wieder der „Italien-Effekt“ eingetreten: Man betritt das Haus eines Fremdens als Fremder und verlässt es als guter Freund. Die Hemmschwelle, sich auszutauschen, einen anderen über das Leben auszufragen ist in Italien stets eine ganz andere als nördlich der Alpen. Man ist nie lange „fremd“ in Italien, man wird rasch zu einem Freund. Der „Italien-Effekt“ schlug auch hier in Bariano zu, zusätzlich noch mit dem Hinweis, dass ich wenn ich in der Gegend sei, unbedingt sofort anrufen sollte, dann erhalte ich sofort wieder solch ein gutes Mittagessen. Na dann „Buon Appetito!“

Von Papierstau und anderen Fehlermeldungen oder: Arbeitsalltag in Italien  

Das Schöne an Druckern ist ihre extreme Zuverlässigkeit und die Unzahl an Fehlermeldungen, die dieses kleine Gerät jeden Tag aufs Neue produziert: Papierstau, Patronen leer, Klappe geöffnet, Signalweiterleitung unterbrochen. Innerhalb meines Monates in Bergamo lernte ich die tiefe, innere Seele vieler Drucker kennen, die oft ihr Eigenleben führen, die selbst eingefleischte Druckerexperten an das Ende ihrer Weisheit bringt.

Nachdem das alte Multifunktionsgerät – Scanner, Drucker, Faxgerät und Kopiere in einem – einen Tag bevor meiner Ankunft den Löffel abgegeben hat, war ich anfangs auf einen kleinen Canon angewiesen, der zwar gut für zuhause, jedoch ungeeignet für den Arbeitsalltag in einem Büro ist. Denn bei meiner Aufgabe 10 Ordner mit teils bis zu 60 Seiten dicken Dokumenten einzuscannen verzweifelt man bei einer Scangeschwindigkeit von einer halben Minute bereits nach zwei Dokumenten.

Doch Hilfe kam bald – in Form von Andrea, dem Techniker des Büros, der den reparierten Multifunktionsdrucker brachte. Nach zwei verzweifelten Tagen mit dem kleinen Canon-Scanner, der von der Geschwindigkeit her den Fortschrittgeist österreichischer Politik entsprach,  war das Wort „Pronto“ auf den Drucker wie eine Erlösung, ein Hoffnungschimmer am endlos erscheinenden Papierscanhimmel.  Sofort begann ich mit meiner Arbeit – aber es hat nicht sein sollen. Nach 30 Minuten Arbeit verabschiedete sich auch dieser Drucker in die ewigen Jagdgründe mit den Worten „Unbekannter Fehler“. Die Folge davon waren weitere 5 traumatische Tage mit dem Canon-Scanner und 5 Tage ohne Faxgerät im Büro.

Mittlerweile waren über 3 Wochen vergangen doch Italien wäre nicht würde man nicht in dieser Misere eine Lösung finden: Ein Freund erklärte sich bereit, die Ordner nach der Arbeit auf seinem Multifunktionsgerät einzuscannen – das – welch Wunder! – einwandfrei und schnell scannt. Ordner wurden also von Bergamo nach Bariano und dann weiter nach Milano gebracht, um eingescannt zu werden. Sie wurden im Zug hin und her transportiert, sie sahen viel von der Lombardei – während der Drucker im Büro weiterhin klinisch tot „Unbekannter Fehler“ anzeigte.

Doch gegen Ende des Monats erfolgte eine schlagartige Wende in diesem Druckerdrama: Andrea brachte einen neuen Brother-Drucker. Dieses Gerät wär deutlich kleiner, wies jedoch die gleichen Eigenschaften wie der alte Drucker auf. Nach einer halben Ewigkeit an Installationszeit erfolgte ein Probedruck – ja funktioniert. Dann folgte eine Kopie – ja funktioniert. Schließlich wurde es spannend: Scannt er oder scannt er nicht? Nach bangen Minuten die Erlösung: Er scannt! Schneller als das alte Gerät und sogar beidseitig! Halleluja!

Hätte in diesem Moment sich ein Champagner im Kühlschrank befunden, wäre er spätestens jetzt geöffnet worden – Andrea und ich konnten es kaum glauben – er scannt! Ohne Fehlermeldung! Nahe der Geburtsstadt von Papst Johannes XXIII.ist tatsächlich ein Wunder geschehen!

Probleme sind da um gelöst zu werden! – auch wenn es dauert! Italiener und hier vor allem Norditaliener sind ein Meister im Improvisieren und im Problemlösungen suchen. Es ist dies ein fundamentaler Grund für die Wirtschaftskraft im Norden des Landes, der die Gegend zu einer der reichsten Europa gewandelt hat und der sich auch in „Hart arbeiten und das Leben genießen“-Grundsatz bemerkbar macht.

Aperitivo bergamasco – Feierabend im Lokal  

Bei solch stressigen Kämpfen mit Druckern und Fehlermeldungen braucht man einen Ausgleich. Sehr beliebt bei den Bewohnern von Bergamo ist dabei l’apertivo“ – der Aperitiv. Nach einem anstrengenden Arbeitstag trifft man sich mit Freunden in einer der zahlreichen Bars in der Città Bassa, dem Pedant zur Città Alta, der Oberstadt.

Die Città Bassa ist das komplette Gegenteil der Città Alta: Es ist das Zentrum der Wirtschaftstätigkeit, hier trifft man sich am Samstag Abend zum Pizza essen, kauft sich am Morgen an der Straße in einem der zahlreichen Kioske eine Zeitung oder genießt eben einen Aperitif. Die typische Zeit dafür ist zwischen 17:00 und 19:00, also vor dem Abendessen. In den Bars bestellt man sich etwas zum Trinken, meistens ein Bier, Aperol oder anderes und diskutiert und redet in angenehmer Atmosphäre, was der Arbeitstag so gebracht hat, wohin man im Sommer fährt, über Berlusconis neue Machenschaften, über das Fußballergebnis von Milan oder über das Wetter.

Dazu werden kleine Köstlichkeiten gereicht – Pizzabrötchen, Oliven, Prosciutto crudo, Ruccola, etwas Pasta. Auch ich kam einige Male in den Genuss dieses „Apertivo“, der von mir aber schändlich missbraucht wurde als Abendessen. Denn es gibt keine „Reglementierung“ wieviel man von diesen kleinen Leckerbissen essen darf und so wurde ein Aperitivo bei mir oft auch zu einem vollen Abendessen.

Al supermercato e l’italia pulita – Brechen mit Klischees 

Fand sich mal niemand, mit dem ich zu einem aperitivo gehen konnte, um dort mein Abendessen billig zu konsumieren, dann musste auf den Supermarkt zurückgegriffen werden. Ein italienischer Supermarkt unterscheidet sich grundsätzlich von einem Supermarkt in einem anderen Land. Denn hier muss ein Supermarkt die italienische Grundphilosophie „Genuss und das Leben genießen“ immer und überall erfüllen. So werden viele regionale und frische Produkte präsentiert, die allesamt höchste Qualität aufweisen – auch beim Discounter. Frische Zutaten spielen in der italienischen Küche eine große Rolle und so sind auch die italienischen Supermärkte aufgebaut.

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Blick auf  Bergamo

Diese „Wichtigkeit“ was Essen, Genuss und Lebensfreude betrifft, sieht man am besten wenn man Italien mit Großbritannien vergleicht. Italien ist weltweit gesehen eines der Länder mit der besten Küche, die sich weltweit  fast selbstständig exportiert hat – Pizza und Pasta gibt’s mittlerweile auch im tiefen Russland oder in Afrika.  Aus Großbritannien kommt – nun ja was eigentlich? Dort oben gibt es absolut nichts, was man exportieren möchte und dementsprechend sieht auch die „Feinkost-Abteilung“ auf. Während etwa im Auchan Bergamo diese „Feinkost-Abteilung“ sich fast auf den halben Supermarkt verteilt, aus fast 10 Meter langen Wursttheken besteht, wo man Schinken in allen Formen und Variationen erhält und wo sich langgestreckte Käsekühlregale befinden, die Spezialitäten aus jeden abgelegenen Tal irgendwo in Italien anbieten. Dazu gibt es eine eigene Pizzabteilung und eine sehr große Gebäckabteilung. In einem Supermarkt in Großbritannien umfasst die „Feinkostabteilung“ ein kümmerliches, kleines Regal irgendwo in den hintersten Winkel des Supermarktes hineingesteckt, wo man dann aus einer halb leeren Vitrine sich zwischen Schinken A und Schinken B entscheiden kann, wobei beide ungenießbar aussehen.

Ob Autobahnraststation oder Edelrestaurant – in Italien isst man fast überall gut. Qualität und Frische werden groß geschrieben, was oftmals dazu führt, dass man mit Klischees aufräumen muss.

Wenn ich nicht gerade den Auchan von Bergamo zum Einkaufen auserwählte, dann wurde es der etwas kleinere Pam gleich um die Ecke, der sehr komfortable Öffnungszeiten und ein annehmbares Sortiment bietet. Frisches Gebäck, egal ob Panini oder egal welch anderes Brot, werden in einer Selbstbedienungs-Box angeboten. Die verschiedenen Artikel liegen in kleinen Boxen, sind mit einer Nummer versehen und dann selbst abzuwiegen. Diese neue Form der Selbstbedienung hat sich in Italien fast flächendeckend in den großen Supermarktketten durchgesetzt. An dieser kleinen Alltagshandlung zeigt sich, dass die Standard-Klischees über Italien heute nicht mehr zeitgemäß sind. Denn um die Ware nachhause zu transportieren gibt es Plastiktüten in allen Größen, daneben liegen Einweghandschuhe, mit der Bitte, diese anzuziehen, wenn man sich seine Panini fürs Abendessen aus eine dieser Boxen rausnimmt.

Ich kannte dieses System natürlich von Österreich. Auch dort hatten einige Discounter vor einiger Zeit mit der Umstellung auf Selbstbedienung begonnen. Wie immer nahm ich also eine Tüte in die Hand und wählte die Panini aus, jedoch – sowie ich es von Österreich gewohnt war – ohne die Handschuhe anzuziehen. Ich dachte mir nichts dabei, eben sowie in Österreich. Doch dann beobachtete ich die anderen Kunden in diesen Supermarkt. Alle, wirklich alle, zogen sich fein säuberlich die Plastikhandschuhe, an als sie die Produkte auswählten.

Ich war etwas perplex – der korrekte Österreicher ignorierte die Handschuhe, während die Italiener, die es sonst ja mit Regeln nicht so genau nahmen, sich alle – vom kleinen Kind bis zum Großvater – ordentlich die Einmalhandschuhe anzogen, um ihr Gebäck auszuwählen. In meiner ganzen Zeit in Bergamo ist mir niemand aufgefallen, der ohne Handschuhe sich bediente. Ich war überrascht. Überrascht von der Korrektheit, die Italien und seine Einwohner an den Tag legen können. Die angeblich so lockeren Italiener, die es mit Regeln doch nicht so genau nehmen, können den korrekten und ordentlichen Österreichern noch einiges beibringen. In einem österreichischen Discounter gibt es übrigens nicht einmal Einweghandschuhe.

Ob Handschuhe oder das Rauchverbot. „Vietato Fumare“ ist in Italien seit Jahren akzeptiert. In Restaurants und öffentlichen Bereichen ist Rauchen meist verboten – und alle halten sich daran. Während man in Österreich seine Jacke nach dem Besuch von kleinen Bars gleich wegwerfen kann kann, so eingeräuchert wie diese ist, ist in Italien das allgemeine Rauchverbot seit Jahren Realität und ein angenehmer Besuch von Bars und Restaurants überall möglich.

Italien ist in vielerlei Hinsicht geordneter als anderswo, das Klischee „Italiener halten sich nicht an Gesetze und Regeln“ ist daher generell überholt, insbesondere im Norden. Im Gegenteil, Österreich ist in vielen Bereichen unorganisierter, was sich etwa auch an der Wursttheke bemerkbar macht. Ein ausgeklügeltes System verhindert es, dass in Italien sich jemand vordrängen kann – Nummer für Nummer werden die Kunden bedient. Ordnung und System – das ist man doch von Italien gar nicht gewohnt, oder? 😉

Il Weekend – der Weg ist das Ziel

Zug fahren kann interessant sein. Meistens ist es das aber nicht. Etwa in Österreich, wo die ÖBB immer wieder Rekorde in Sachen Reisezeiten aufstellt und nicht wirklich eine Konkurrenz zum Auto geworden ist. Wien-Villach in fast 5 Stunden, Graz-Villach via Zug fast 4 Stunden. Es ist fast schon ironisch, wenn der neue Hochleistungszug der ÖBB, der Railjet, mit sagenhaften 40 km/h durch die Obersteiermark tuckert, vorbei an Bauernhöfen und Käffern, die die Welt noch nicht gesehen hat. Der leidgeplagte ÖBB-Bahnfahrer kommt da bald an die Schmerzgrenze und steigt auf sein eigenes Auto um, wenn nur irgendwie möglich. So ging es auch mir, Zug fahren – nein, danke!

Während meines Monates in Bergamo habe ich jedoch die italienische Bahn kennengelernt. Auch hier prallen Klischees auf die Realität – und diese ist ganz anders als alles, was in Deutschland und Österreich so über die italienische Eisenbahn grassiert. Verspätungen gibt es immer weniger, Streiks ebenso (in Deutschland wird da in letzter Zeit schon deutlich mehr gestreikt) und das Preis/Leistungsverhältnis ist einmalig.

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Ein italienischer Freccia-Bianca Zug

Das erste freie Wochenende in Bergamo stand vor der Tür und da ich die piemontesische Hauptstadt Torino/Turin im Westen des Landes noch nie besucht habe, bot sich ein Tagestrip in die alte italienische Königsstadt an. Also ging es mit dem Regionalexpresszug nach Milano Centrale, nach Mailand, dem zentralen Knoten des italienischen Bahn- und auch Straßenverkehrs. Von hier ging es dann in nur etwas über 1 Stunde die über 140 km nach Torino in einem der vielen Freccia-Züge. Die roten und weißen Pfeile verbinden Italien und stellen immer wieder Streckenrekorde auf. Auch ich kam ohne Verspätung in Turin an und verbrachte einen interessanten Tag in der Stadt am Po, die ein wenig das Flair der königlichen Zeit Italiens ausstrahlte, als Italien noch von Königen, u.a. Vittore Emanuele II, regiert wurde.

Neben dem Palazzo Reale und viel Architektur, die um die 1860er Jahre herum entstand, ging von Turin auch aus die „Italianisierung“ aus. Nach dem Risorgimento, der Wiedervereinigung Italiens, gab es zwar einen einzelnen Staat, der jedoch wegen der unterschiedlichen Zugehörigkeit der einzelnen Regionen zu fremden Herrschern, unterschiedlich geprägt war. Es gab lange Zeit kein „Standarditalienisch“, wie es heute der Fall ist. Die Leute in Friaul oder in den Marken sprachen ihre jeweiligen, lokalen Dialekte, die für den Gegenüber nur schwer verständlich waren.

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Turin: Für einige ZEit auch die Hauptstadt Italiens

In Turin jedoch entstand nach dem Zweiten Weltkrieg die RAI, die Radiotelevisione Italiana. Von hier aus wurde schrittweise ganz Italien von einem Netz an Senderstandorten erschlossen, die erstmals Sendungen in Standarditalienisch auch in die Wohnzimmer Siziliens und Kalabriens brachten (wobei das im Süden bis heute nicht viel half, hier redet man immer noch wild…). Das Fernsehen war es, dass Italien vereinte und zur Herausbildung einer einheitlichen Sprache beitrug. Es begann hier in Turin, in einer Stadt, die bis heute noch nicht ganz im republikanischen Italien angekommen ist, sondern die Eleganz einer Königsstadt bis heute versprüht.

Der Sitz der RAI in Turin

Auch die FS, die Ferrovie dello Stato, die italienische Staatsbahn, haben irgendwie zur Einigung Italiens beigetragen. „Siamo la Metropolitana dell’Italia“ lautet ein aktueller Werbeslogan der Staatsbahnen, „Wir sind die U-Bahn Italiens“ – und ja, es stimmt, die FS verbinden Italien immer mehr. Sie sorgen für den Transport von Süditalienern in den Norden, die dort arbeiten und studieren, im Sommer jedoch heimkehren in den Süden, der zwar keine Zukunft bietet, aber trotzdem irgendwie schöner ist. Sie bringen die Mailänder und die Bewohner der Region Veneto/Venetien an die Traumstände Kalabriens, Apuliens oder der Marken und sie befördern vor allem täglich tausende Personen von Mailand nach Rom entlang der wichtigsten Bahnstrecke Italiens. Mailand, das ist Italiens Finanz- und Wirtschaftszentrum. Leben will hier niemand außer den Mailändern selbst. Aber es gibt Arbeit und das ist ein wichtiges Argument in einem Land, in dem die Arbeitslosenquote leider noch viel zu hoch ist. Die Stadt selber versprüht jedoch kein besonderes Flair. Die Stadt ist geprägt durch faschistische Bauten der 1920er und 1930er Jahre, es gibt nur überteuerte Modelabels und die Hektik erinnert eher an London als an eine italienische Stadt. Mailand ist nicht italienisch, die Stadt ist zweckmäßig aufgebaut und wahrlich keine Perle.

Von mir wurde die Stadt daher meist als Umsteigepunkt genutzt, da alle Züge von oder nach Milano fahren. Als es ausnahmsweise einmal nicht regnete, sondern die Sonne schien, fuhr ich mit meinem altbekannten Treno Regionale von Bergamo nach Mailand. Der Juli 2014 war auch was das Wetter anbelangte eher unitalienisch, es regnete, regnete und regnete! Mailand stand zweimal unter Wasser, die Flüsse Adda und Serio gingen mehrmals über die Ufer. Das Klima in der Lombardei hatte etwas von den Tropen, man konnte die Uhr danach stellen, etwa gegen 14:00 zog meist ein kräftiges Gewitter über die Stadt und sorgte für ordentlichen Niederschlag, mehrere Tage regnete es überhaupt ohne Pausen.

Doch dieses Wochenende war anders. Es war das einzige, wo sich Sommerwetter über Italien festsetzte. Doch leider wurde es gleich wieder zu warm und das Thermometer stieg über 30° C – was in einem Regionalzug in Italien durchaus ein Problem darstellen kann. Denn die Wägen verwandeln sich dann in eine fahrende Sauna, in der die Innentemperatur rasch über 40° C ansteigt. Trotz vorhandener und zu öffnender Fenster war die Fahrt von Bergamo nach Mailand eine verlustreiche – ich habe mindestens so viel Wasser durch Schwitzen verloren, wie es in der Lombardei im Juli geregnet hat.

La Piazza – hier in Sirmione

Als ich in Milano Centrale den Zug verließ und zu meinem Anschlusszug rannte, der mich nach Rom bringen sollte, war es, als ich diesen Hochgeschwindigkeitszug betrat, so als wäre es eine andere Welt: 1. Klasse, Ledersitze, Klimaanlage. Es war wie die Wiedergeburt. Ich lehnte mich in meinem großen Ledersitz bequem zurück. 2 Stunden und 40 Minuten trennten mich vom Zentrum der Hauptstadt Italiens. 25 Euro, 1. Klasse, 650 km in 2:40 h – es sind neue Maßstäbe, die die italienische Bahn hier setzt. Pünktlichkeit, günstige und gute Verbindungen sind die Vorteile des Bahnfahrens in Italien. Und als die Anzeigetafel im Zug auf 300 km/h Reisegeschwindigkeit umsprang, dachte ich an die 40 km/h, die ein Railjet so in der Obersteiermark zustande kriegt und lehnte mich zufrieden in den Ledersessel zurück. Zug fahren kann so schön sein.

Un mese che ha cambiato tutto – 1 Monat Bergamo

1 Monat Bergamo. Es war eine turbulente Zeit, ein Monat, in dem ich viel über Italien und über seine Menschen lernte. Letztendlich ist es jedoch nicht von Bedeutung, was man gemacht oder wohin man gefahren ist, sondern mit wem man diese Erlebnisse teilt. Es war mehr als nur eine Arbeitsstelle, die ich in Bergamo hatte. Es war eine Chance, neue Menschen kennenzulernen und einen Ort zu finden, der mein zweites Zuhause wurde. Ob es die Mittagessen oben in der Wohnung meiner Chefin und ihrer Familie waren, in der wir alle versammelt zusammen gegessen haben oder die vielen Gespräche mit dem Mann meiner Chefin über Italien, über die Geschichte und über Europa. Die Ausflüge nach Rom, Turin, Brescia oder Verona oder an den Gardasee. Den Spaß, den ich mit Francesca, einer Mitarbeiterin oder mit Elin, dem Au-Pair Mädchen der Familie, bei der Aufnahme von Podcasts in drei Sprachen hatte. Volle unklimatisierte Züge, Eis essen am Abend, Sonnenuntergänge, alte Städte, streikende Drucker, Supermärkte mit Einweghandschuhe – das Leben in Italien ist intensiver, man erlebt sowohl positives als auch negatives stärker als anderswo.

Es funktioniert bei weitem nicht alles einwandfrei in Italien, Wirtschaftsprobleme, Mafia, Arbeitslosigkeit setzen Italien sehr zu, aber trotzdem, trotz allgemeiner Wirtschaftskrise, sind die Restaurants in und um Bergamo jeden Freitag und Samstagabend voll mit Personen aus allen Altersklassen, die sich treffen und das Leben feiern. Sie genießen die Kleinigkeiten des Lebens, eine simple Pizza, einen Cappuccino oder ziehen jeden Sonntag los und fahren in die Berge, ans Meer und gehen gemeinsam in die Parks. Man lebt das Leben, dass nicht immer nur positive Seiten bringt und genießt alle Aspekte des Alltagsleben. Es ist diese Lebenseinstellung – hart arbeiten und das Leben genießen – was man von den Menschen der Lombardei lernen kann.

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Italien: Zentrum des Genusses

Mein Bergamo-Abenteuer endete mit einem unvergesslichen Abend einen Tag vor meiner Abreise. Es waren diese Freunde, die diesen Abend unvergesslich machten. In einer neapolitanischen Pizzeria fanden sich alle ein, die für mich Bergamo dargestellt haben. Wir saßen zusammen, auf die Vorspeise folgte die Pizza und  Nachspeise, wir  lachten, diskutierten und redeten über Gott und die Welt und über all das, was in diesem Monat so passiert war. Nach diesem üppigen Abendessen fuhren wir alle noch zu meinem Vermieter, der einen Stock oberhalb meiner Wohnung wohnte, und plauderten stundenlang bei einem guten Wein aus der Toscana über alles Mögliche. Alle Personen waren versammelt, am letzten Abend eines wunderbaren Monats, dass viel zu schnell vergangen ist.

Doch alles hat ein Ende, so auch meine Zeit in Bergamo.

Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich bei der Familie meiner Chefin, die mich in diesen Monat so herzlich aufgenommen hatte, mir viele Freiheiten beim Arbeiten gegeben hat und die für mich mehr als nur Arbeitgeber waren, sondern weit mehr – sie wurden meine Freunde.

Gegen 12:00 verließ ich das Haus und ging die Straße runter zu meinem Auto. Der Himmel hatte sich wieder verdunkelt, es begann leicht zu regnen. In strömenden Regen verließ ich die Stadt, die in diesen Monat mir ganz besonders ans Herz gewachsen ist. Exakt bei gleichen Wetter war ich 1 Monat zuvor angekommen in Bergamo, unwissend, was alles auf mich zukommen wird. 4 Wochen später verließ ich eine Stadt, die meine zweite Heimat geworden ist, in der ich Freunde gefunden habe und die für mich immer ein besonderer Ort bleiben wird sowie generell dieses Land, das von Südtirol bis nach Sizilien so viele Gegensätze und so viel Lebensfreude auf engsten Raum vereint.

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